Unser Leben im Jahre 2100 – Kein papierloses Büro, aber alte Psycho-Muster

610ETytpmOL._BO2,204,203,200_PIsitb-sticker-arrow-click,TopRight,35,-76_SX342_SY445_CR,0,0,342,445_SH20_OU03_Es gibt wenig, was ich nicht interessant finde. Warum also nicht mal ein futorologisches Buch lesen „Die Physik der Zukunft – Unser Leben in 100 Jahren“. Der Quantenphysiker Michio Kaku hat 300 Wissenschaftler gefragt:

Wie werden wir leben – in 20, 60, 100 Jahren?

Anlass zu diesem Buch zu greifen, ist eine Diskussion, die ich derzeit mit einigen Kooperationspartner führe. Es geht z. B. um die Frage, ob viele Unternehmen die Zukunft verschlafen, indem sie nicht einmal die technischen Mittel unserer Zeit (Computer, Internet etc.) geschickt nutzen. Und gibt es Menschen, die Lust haben, sich mit Zukunftstrends zu beschäftigen?

Der Buchautor und einige meiner Kooperationspartner sagen: Schneller als die meisten heute denken, wird es u.a. in den Bereichen Computer-Technologie, Medizin, Energie und Raumfahrt zu enormen Veränderungen kommen. Wow!

„Roboter werden uns die Alltagsarbeit abnehmen. Küchengeräte und andere Maschinen steuern wir mit der Kraft unserer Gedanken. Medizinische Nanobots werden aufmerksam durch unsere Blut- und Nervenbahnen eilen und sogar Krebs heilen. Zu lästigen Meetings schicken wir unser Hologramm (…). Trotzdem werden wir weiter reisen, uns treffen, Sport treiben und in die Kneipe gehen, weil Menschen nun mal so sind.“, steht im Einführungstext des Verlags.

Mmh – ich habe das 580-Seiten-Taschenbuch noch nicht komplett durchgelesen, möchte mich aber hier damit beschäftigen, warum ich diesen Blick in die Zukunft doch nicht so interessant finde. Mir fehlt nämlich etwas Entscheidendes.

Und das sind nicht Beweise. Das wird schon seriöse Zukunftsforschung sein, die der Physiker da betreibt. Einige der Neuerungen werden ganz sicher schon heute in Wissenschaft und Industrie vorbereitet.

Was mir fehlt sind Annäherungen an die Frage: Wie werden die Menschen der Zukunft denken, wie werden wir uns fühlen und verhalten? Ein paar Antworten gibt der Autor dazu – die fand ich aber nicht überzeugend oder gar inspirierend.

Einige Vorhersagen in dieser Richtung könnten zutreffen – oder auch nicht.

Zum Beispiel: Obwohl es technisch möglich ist, hat sich das papierlose Büro nicht durchgesetzt. Das wird mit dem „Höhlenmenschenprinzip“ erklärt:

„Wann immer es zu einem Konflikt zwischen der modernen Technik und den Begierden unserer primitiven Vorfahren kommt, dann gewinnen diese primitiven Begierden – und zwar jedes Mal. Das ist das Höhlenmenschenprinzip. So verlangte der Höhenmensch beispielsweise stets einen ‚Beweis für den Jagderfolg‘. Es reichte nicht aus, mit der fetten Beute zu prahlen, die man beinahe erwischt hätte. Die frisch getötete Beute in der Hand war stets mehr wert als Geschichten über Beute, die entkommen war. Darum möchten wir einen Ausdruck, wann imer wir es mit elektronischen Daten zu tun haben. Instinktiv misstrauen wir den Elektronen, die in unserem Computerbildschirm hin- und herflitzen, und drucken unsere E-Mails und Berichte auch dan aus, wenn dies nicht nötig ist. Darum konnte sich das papierlose Büro nie durchsetzen.“ (S. 28 f.)

„Wann immer es zu einem Konflikt zwischen der modernen Technik und den Begierden unserer primitiven Vorfahren kommt, dann gewinnen diese primitiven Begierden – und zwar jedes Mal.“

Das heißt ja dann wohl, dass es das papierlose Büro auch in 100 Jahren nicht geben wird.

Dieses Höhlenmenschenprinzip oder einfach Annahmen über die individuelle und kollektive Psyche der Menschen wird dann immer herangezogen, wenn es um die Frage geht, wie sich technische Entwicklungen auf die Gesellschaft auswirken.

Zum Beispiel: Wie leben wir, wenn Replikator-Technik jeglichen Mangel (an Gütern und Nahrungsmitteln) ausgeschaltet hat? Einige Menschen werden sich dann auf die faule Haut legen, andere Menschen werden sich dann Gedichte schreiben oder malen – so die – verkürzt dargestellte – Zukunftsschau.

Diese Fragen zur gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungen sind  mir im Buch zu kurz abgehandelt. Kann man von einem Physiker vielleicht nicht erwarten, aber etwas mehr Bewusstsein für die eigenen blinden Flecken wünsch‘ ich mir von einem Wissenschaftler doch.

Im letzten Kapitel wird ein „Tag im Jahr 2100“ beschrieben. Da wacht ein Mann verkatert nach einer durchzechten Silvesternacht auf, weil er vom Wandbildschirm ins Büro zitiert wird. Im sich selbst steuernden Magnetauto gleitet er dahin und schaut auf der Armbanduhr (die gibt’s dann wieder :-)) eine Videobotschaft an. Die Schwester lädt zur Party ein und will den Bruder dort mit einer netten Frau verkuppeln. Oje, denkt er sich. Im Büro angekommen sieht er auf seinen Kontaktlinsen Informationen über die Leute im Konferenzraum. Hohe Tiere sitzen da, der Chef begrüßt alle mit „Gentleman“ und später nimmt der engagierte Mitarbeiter all seinen Mut zusammen und sagt etwas Kritisches zum Chef. Und so geht’s weiter …

Das ist unsere Zukunft?

Althergebrachte Hierarchien, Gentleman, durchzechte Nächte, Schwestern, die sich in unser Leben einmischen wollen – basiert das alles auf dem Höhenmenschenprinzip?

Unser Bewusstsein hat sich gar nicht verändert? Es sind einfach nur neue technische Errungenschaften dazu gekommen?

Finde ich langweilig.

Und Sie?

 

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Langweilig? Ja, absolut. Die Frage, die ich mir stelle, ist: Warum sollte sich unser Bewusstsein in den nächsten 100 Jahren dramatisch ändern? Vielleicht passiert das. Letztlich unterscheiden wir uns ja auch von vorher gehenden Generationen. Zum Beispiel in der Frage gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Aber wir tun vieles genauso, wie frühere Generationen, ohne dass sich große Veränderungen abzeichnen würden. Wenn ich auf uns heute blicke, sind viele Dinge nicht großartig anders als damals, vor 100 Jahren. Frauen haben es immer noch schwer in unserer Gesellschaft, und da müssten wir doch heute schon weiter sein. Das finde ich dramatisch.

    1. Liebe Sonja Tomaskovic,

      die Frage „Warum sollte sich unser Bewusstsein in den nächsten 100 Jahren dramatisch ändern?“ stelle ich mir auch – nun ich hoffe, dass sich unser Bewusstsein dramatisch verändert.

      Nicht nur hoffe ich, dass Frauen weltweit – auch in Indien, auch in islamischen Ländern, auch in heutigen sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern – ein freies, sicheres und erfülltes Leben leben können.

      Sondern ich hoffe auch, dass Menschen nicht länger denken, sie könnten ihre Bedürfnisse nur auf Kosten anderer durchsetzen. Dazu kann es aus meiner sicht nur durch einen tiefgreifenden Wandel unseres Bewusstseins kommen.

  2. Liebe Annja Weinberger,

    ich kann Ihre Irritation absolut nachvollziehen. Und ich stimme Ihnen zu: Es geht nicht um Technik sondern um unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung.

    Ja, diese „Höhlenmenschenbeispiele“ werden sehr oft herangezogen. Ich beschäftige mich seit einiger Zeit intensiv mit dem Thema Neurobiologie. Und ja unsere „älteren“ Gehirnareale sind oft stärker und schneller und „übersteuern“ so unser Denken. Das ist das eine.

    Wir können aber etwas dagegen tun. In dem wir auf der einen Seite unsere Wahrnehmung schulen und auf der anderen Seite bestimmte mentale Übungen regelmäßig anwenden. Wie Meditation und Achtsamkeit beispielsweise. Oder auch herzintelligente Übungen, wie ich sie anwende. Über diese Dinge werden all unsere „Körpersysteme“ ins Gleichgewicht gebracht. Und wir können unsere Probleme besser lösen und sind kreativer und gesünder. Und können in stressigen Situationen das automatische Stress-Programm stoppen. Und das ist wissenschaftlich belegt.

    Da liegt meiner Meinung nach unsere Zukunft: In mehr Verantwortung, Selbstbestimmung und einem konstruktiven Miteinander.

    Technik ist aus meiner Sicht nur ein Werkzeug. Und in unserem „reaktiven Modus“ wie der Neuropsychologie Rick Hanson das nennt setzen wir diese Technik nämlich gerade nicht immer zielgerichtet und für uns förderlich ein. Ich nenne an dieser Stelle nur das Stichwort „Multitasking“.

    Vielen Dank für diese spannende Anregung zum Nachdenken!

    Martina Baehr

    1. Liebe Martina Baehr,

      ja, das trifft es auch für mich sehr gut – Sie schreiben, wir können etwas gegen den reaktiven Modus tun. Meditation und Achtsamkeit zum Beispiel, die mir persönlich sehr wichtig sind oder auch Ihre herzintelligenten Übungen, die sich spannend anhören.

      Das kann den Boden bereiten für ein neues Bewusstsein, durch das wir ein erfülltes Leben und stressfreies Miteinander gestalten, statt dass wir uns immer weiter durchschlagen als Höhlenmenschen (wenn auch mit High-tech-Werkzeugen).

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